Mein Leben

Wie es begann

Es war eine finstere und stürmische Nacht. Dies ist ein guter Anfang für ein Buch. Die Nacht des 27. Aprils 1957 war sicherlich genauso finster wie alle Nächte zuvor und danach. Wie stürmisch es war weiß ich nicht, denn meine Erinnerung reicht nicht zu diesem Tag zurück, aber wer will schon in einer gewöhnlichen Nacht geboren sein. Ich ließ mir mit meiner Geburt im Eppendorfer Universitätskrankenhaus jedenfalls noch ein wenig Zeit, sodass mein Geburtstag erst auf den nächsten Tag fällt.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass es mir zuwenig sei nur irgendwann das Wachsen aufzugeben und ich lieber gleich nicht auf diese Welt kommen wollte. Doch die Unerbittlichkeit der mechanisch-medizinischen Wissenschaft machte meinem Versuch nach zwei Wochen Überfälligkeit Schluß und leitete gewaltsam mit der chemischen Keule zuschlagend die Geburt ein. Will man den Schilderungen anderer glauben, so versuchte ich mich noch zu erhängen mit der Nabelschnur um meinen blau angelaufenen Kopf, welche Gnade man mir ebenfalls versagte.

Da war ich nun und schrie mir die nächsten Jahre Nacht für Nacht die Seele aus meinem Leib und den Verstand aus dem Kopf meiner acht Jahre älteren schulpflichtigen Schwester. Sie musste mich dann auch noch am Nachmittag durch den Park fahren. Die besorgte Mutter fragte die Fachleute, deren unzweifelhafte und einleuchtende Diagnose lautete: "Das kann nur Hunger sein". So wurde ich gefüttert, bis ich keinen Ton mehr herausbekam und es eine Freude war mit anzusehen, wie ich in alle Richtungen wuchs.

Die Beule, die ich noch heute vorne an meinem Kopf trage, soll durch meinen wagemutigen Sprung vom Wickeltisch stammen, als meine Mutter den Puder holte.

Als ich schließlich groß genug war über das Geländer des Balkons im Hinterhof unserer Wohnung zu blicken, nahm ich Kontakt zur Nachbarin auf, was mir manches Matchbox-Auto und manchen Cowboy oder Indianer einbrachte. Damit konnte ich Autogaragen in der Sandkiste im Park bauen, die Autos hineinfahren lassen und die Garage schließen. So ließ mein Bedarf an Autos nie nach. Eines habe ich einmal wiedergefunden - ich erneuerte die Farbe mit Mammas Nagellack und habe es noch lange benutzt. Zu den Cowboys und Indianern brachte der Weihnachtsmann ein Fort. So mancher wackere Cowboy und Indianer musste sein Leben für meine Belustigung hingeben. Die ausgeleierten Legosteine meiner Schwester übten noch eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus - das "Verhängnis" nahm seinen Lauf.

Mein Vater war Straßenbahnschaffner. Er ging durch den Wagen mit einem Gerät, auf dem er den Fahrrpeis einstellte, dann eine Kurbel drehte und dem Fahrgast den Fahrschein gab im Austausch für das Fahrgeld. Später war in den Wagen dann ein Sitzplatz für den Schaffner und die Fahrgäste kamen zu ihm. Dann gab es gar keinen Schaffner mehr und der Straßenbahnfahrer mußte auch kassieren. Da wurde mein Vater umgeschult zu einem Haltestellenwärter bei der U-Bahn, er fertigte die Züge ab, fegte den Bahnsteig und verkaufte Fahrkarten, was eben gerade dran war. Fahrer konnte er nicht werden, denn er war farbenschwach.

Zu meinem Steiff-Teddy gesellte sich eines Tages ein grauer Affe, den mir mein Vater kaufte. Wie sich herausstellte wurde das Biegen der Arme und Beine durch Drähte bewerkstelligt, die jedoch bald brachen und die ich ihm zog. Mein Teddy büßte auf Grund genauer Untersuchung seine braunen Glasaugen ein., die dann durch mit weißem und braunem Garn gestickte Augen ersetzt wurden.

Um mich endlich stubenrein zu bekommen, wurde ich zwangsweise auf den Topf gesetzt. Es war noch nicht eines der heute üblichen arschstromlinienförmigen Modelle, sondern so ein unkomfortables zwickendes emailliertes Blechinstrument. Es war langweilig stundenlang auf diesem Topf sitzen zu müssen bis meine Exkremente mit mir ein Erbarmen hatten und meinen Körper verließen. So vertrieb ich mir die Zeit mit meinen Indianern und Autos und Bilderbüchern - wie ich es auf höherer geistiger Ebene auch heute noch halte.

Ansonsten bestand meine Welt zu der Zeit nur aus meinem Vater, meiner Schwester und meiner Mutter - Kindergärten waren zu der Zeit noch nicht so verbreitet, glaube ich.

Einmal sollte ich verschickt werden in ein Kinderkurheim. Ich sollte dort dünner werden. Zum Glück gab es auch einige Kinder, die dicker werden sollten, für die habe ich immer den Nachtisch gegessen. Einer hat mir während ich mit meinem Stuhl hin- und herkippelte meinen Stuhl nach hinten gezogen, sodaß ich mit meinem Hinterkopf heftig auf den Boden schlug. Bald danach wurde ich nach Hause geholt, weil eine Kinderkrankheit grassierte. Beim Aussteigen aus der U-Bahn übergab ich mich heftig.

Irgendwann zogen wir um von der Krämpnerstraße in den Alten Kollauweg in Lokstedt. Es war ein Straßenbahndepot. Wir bewohnten das Erdgeschoß des dreistöckigen HHA-Mietshauses mit einem Miniaturgarten mit ein paar Quadratmeter Rasen und einem Rosenbeet in der Mitte. Die andere Erdgeschoßwohnung war das HHA-Büro. Gleich neben dem Wohnhaus stand ein Einfamilienhaus, in dem die Familie Heinz wohnte. Sie waren blöd, wie man mir sagte. Trotzdem war die gleichaltrige Elke mein einziger Spielkamerad bis ich zur Schule kam, auch wenn es hieß, das ihr großer Bruder Michael mir alles kaputt macht. Wir spielten Familie mit ihren Puppen, wer kann sich länger kitzeln lassen ohne zu lachen und Spitz paß auf mit ihren Eltern.

An die Wohnungsausstattung meine ich mich noch erinnern zu können: Wenn man durch die Wohnungstür kam, lagen links zwei miteinander verbundene Zimmer, die das Wohnzimmer darstellten. Im Vorderen stand das Klappbett meiner Mutter, in das ich sonntagmorgendlich mit heineinschlüpfte und der große Schreibtisch, auf den Weihnachten der Weihnachtsbaum gestellt wurde. Im hinteren Wohnzimmer stand die Musiktruhe mit einem meiner Lieblingsspielzeuge, dem Plattenspieler. Vom Flur geradeaus ging es ins Schlafzimmer mit meinem Klappbett und dem Ehebett, in dem mein Vater schlief. Rechts an der Wand stand ein Schminkschrank. Vom Flur rechts ging es in die Küche mit dem großen Kachelofen, der Tür in den hinteren Grundstücksbereich, der Tür zum Zimmer meiner Schwester und der Tür zur Speisekammer.

In der Speisekammer hatte es mir besonders der Hustensaft angetan, der süß und eigenartig schmeckte - er nahm stetig immer weiter ab, sodaß beim nächsten Husten ein neuer gekocht werden muße.

Die Küche war auch der Ort, wo ich von meiner Mutter mit einem Bambusstab oder dem Teppichklopfer verdroschen wurde, wenn ich "es verdient hatte". Das hörte dann auf, als ich mit sieben erkannte, das man nur den vorderen Teil des Stockes festhalten mußte, um keine Schläge mehr abzubekommen. Es kümmerte mich nicht, dass meine Hand aus meinem Grab wachsen wird, weil ich damit meine Hand gegen meine Mutter erhob. Ich sehe noch vor mir, wie meine Schwester noch mit sechzehn Jahren mit einem Rohrstock geschlagen wurde, denn sie hatte Nachts einen Freund zu sich hereingelassen. Meine Mutter erzählte, sie sei früher von meiner Oma mit einem eisernen Schürhaken verdroschen worden.

Im hinteren Grundstücksteil stand ein Kirschbaum, den wir jedes Jahr abernteten. Dann gabe es Kirschsuppe, Kirschmarmelade, Kirschsaft und Kirschkompott - ich liebe Kirschen. Von hier aus kam man auch zu den mit Goldruten umsäumten Mülltonnen , dann zu den Straßenbahngleisen des Depots und schließlich zur Straßenbahnhalle mit dem Aufenthaltsraum für die Straßenbahner und die Duschen, die auch wir benutzten.

Sonntags wurde ich zur Kirche geschickt, dort wurden dann lustige Geschichten aus der Bibel erzählt. Einmal war auch eine italienische Ritterpuppenvorstellung, die mich sehr beeindruckt hat.

Meine liebsten Spielzeuge waren meine sich ständig vermehrenden Legosteine und Baufix. Abgesehen natürlich von den Sachen meiner Schwester, die ich nicht anfassen durfte, wie ihr Kaufladen, aus dem ich den Puffreis naschte und das Xylophon.

Am Haus kam auch immer das Pferdefuhrwerk gezogen von Liese vom Bauer Schühmann vorbei, wenn er vom oder zum morgendlichen oder abendlichen Melken seiner Kühe fuhr. Die Kühe standen auf der Weide jenseits des breiten Rasens und der Großen Kollaustraße. Später wurde auf einem Teil davon die große Vorlo-Getränkefabrik gebaut.

In einem Sommer wurde ich nach Kaltenkirchen auf einen Bauernhof geschickt. Dort lernte ich Schweineställe, Trecker und die Getreideernte kennen. Einmal haben sie mich abends ins Kino mitgenommen. In einer Höhle lagen die Schätze der Maya bis ein Vulkan ausbrach und alles begrub. Mein nächster Film war einige Jahre später das Dschungelbuch.

Meine Oma war viermal verheiratet. Einer ihrer Männer hat sich aufgehängt. In zwei Sommern sollte ich zu meiner Oma auf den Dulsberg gehen. Aber ein drittes Mal wollte ich nicht, denn sie schlug mich, weil ich nicht wußte, was eine Handeule ist. Ungerecht fand ich auch, das ich von dem Pilzgericht aus den Pilzen nichts abbekam, die wir den ganzen Tag im Wald gesammelt hatten. Sie handelte mit Avon-Kosmetik. Sie wohnte in einer kleinen Wohnung mit zwei Wellensittichen. Wenn Onkel Paul nicht auf Montage war (er montierte Überlandstrommasten), dann wohnte er bei ihr, bis sie ihn herauswarf, weil er manchmal betrunken war.

Mein Opa war von meiner Oma geschieden und nun mit Tante Ännchen verheiratet. (später sollte ich in einer Karte einmal unwissend Tante Entchen schreiben). Sie hatten ein Haus in Niendorf. Mich beeindruckten immer die Porzellanadler auf dem Wohnzimmerschrank. Mein Opa war Buchhalter. Mein strenger Opa war mir böse, als ich aus dem Teller mit Keksen immer die in glänzendes Papier gewickelten Waffeln zog. Dann wartete ich immer gespannt, bis jemand den entscheidenden Keks herunternahm und ich die Waffel von oben blitzschnell wegnehmen konnte. Sie hatten ein großes verwildertes Grundstück hinter dem Haus und hielten auch Hühner. Manchmal, wenn es stark geregnet hatte, lief der Keller voll Wasser und mein Vater ging hin, um zu helfen den Keller auszuschöpfen. Als mein Opa starb, bekamen wir drei Kinder jeder tausend Mark von meiner Tante geschenkt. Sie verkaufte dann das Haus und zog zu Ihren Verwandten nach Köln. Sie kaufte sich Pelze, eine schöne Uhr und ihrem Neffen einen Wohnwagen. Dann verreiste sie mehrmals - was in den vielen Ehejahren mit meinem Opa nie vorkam. Sie hat das Testament zu Gunsten ihrer Verwandten geändert - keiner von uns bekam bei ihrem Tod irgend etwas. Manchmal machten wir Ausflüge und wanderten im Frühjahr bei der Baumblüte durch Finkenwerder und aßen ein Bauernomlett. Oder wir aßen Torte und hörten der Begrüßung der Schiffe in Willkommshöft bei Blankenese zu. Oder wir sahen uns Planten un Blomen an.

Nicht weit weg war ein Park mit einem Ententeich und einer Insel darin. Es gab einen großen Spielplatz mit Klettergerüsten, einem Karussel, Schaukeln, Rutschen und einer großen Sandkiste. Auf dem Ententeich liefen wir im Winter über das Eis zur Insel.

Im Sommer fuhr uns Herr Tür, ein Kollege meines Vaters, in die Lüneburger Heide. Dort wohnte in einem Heim mein Bruder, Heinz-Helmut. Er ist geistig behindert, weil meine Eltern unterschiedliche Resusfaktoren haben. Als Kind lief sein Gesicht gelb an, aber die Ärzte meinten, es sein normale Säuglingsgelbsucht - das war es aber nicht. Als er begann meiner Schwester die Holzeisenbahn über den Kopf zu schlagen, wurde er in ein Heim gegeben. Mein Bruder kam zu Weihnachten immer nach Hause. Einmal schenkte ich ihm einen selbstgebastelten Hampelmann. Er warf ihn mir vor die Füße. Ich war sehr gekränkt. Ich bin mit meinem Vater im Park. Auf einer Bank sitzt ein alter Mann. Mein Vater setzt sich dazu und unterhält sich mit dem Mann. Der alte Mann hat einen Dackel. Ich streichle den Dackel. Nach zehn Minuten beißt der Dackel zu.

Die Schuljahre

Die Schulärztin flüsterte "Schneewittchen" und "Rumpelstilzchen", aber ich verstand es nicht richtig. Außerdem konnte ich nicht mit dem Arm über den Kopf reichen und dann mein Ohrläppchen erreichen, also wurde ich noch nicht eingeschult.

Im nächsten Jahr hat man mich dann doch eingeschult in der neuen Grundschule Corveystraße. Es gab noch keine Turnhalle, deshalb wurde wenig Sport unterrichtet. Aber es gab Schwimmunterricht im Hallenbad Kellinghusenstraße. Beim Schwimmunterricht hänselte man mich, weil ich dick war und deshalb einen Busen hatte. Den Freischwimmer habe ich trotzdem gemacht.

Die Schule war etwa zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Ich mußte Nedderfeld, dann Kastanienalle gehen und die große Osterfeldstraße am Zebrastreifen überqueren und dann die Corveystraße bis zum Ende gehen. Als wir die Straßen durchnahmen, war der Alte Kollauweg als einzige Straße aller Kinder nicht auf der Karte. Wenn es regnete kam ich zu spät in beiden Richtungen, denn man konnte Blätter als Schiffchen im Rinnsteing fahren lassen. Frank war mein Freund. Er wohnte in der Kastanienallee. Wir spielten zusammen auf dem Straßenbahndepot, stahlen Äpfel in einem verwilderten Garten, sahen uns den großen Brand der Papiermühle an, bauten Stauwehre in einem Bach mitten im Winter, sammelten Kastanien für den Förster, klauten Eßkastanien aus einem Garten und entkamen nur knapp dem Hund, wir bauten eine Schneehöhle, spielten Cowboy und Indianer im Gebüsch. Er hatte keine Zeit mehr, jeden Tag mußte er zusätzlich für die Schule üben. Er hatte wieder Geburtstag und sagte mir, ich könnte an dem Tag nicht kommen, denn seiner Mutter sei der Kuchen angebrannt. Meine Mutter traf zufällig seine Mutter. Es stimmte nicht. Ich hatte keinen Freund mehr. Stefan war nun sein Freund. Stefan nahme meine Mütze und warf sie das Treppenhaus hinab. Stefan nahm meinen Renzel und warf ihn ins Mädchenklo. Stefan zog mir auf der Treppe von hinten die Beine weg. Stefan rannte auf mich zu, um mich umzurennen - ich hielt ihm schnell meinen Fuß entgegen. Stefan krümmte sich zusammen, er verpetzte mich bei seiner Mutter und ließ mich in Zukunft zufrieden.

Die Klassenlehrerin sagte, weil ich die Hausarbeit nicht gemacht habe, muß ich nachsitzen. Ich packte meine Sachen in den Renzel, stand auf und ging sofort. Alle Jungen der Klassen holten mich an der nächsten Straßenecke ein. Sie sagen, die Klassenlehrerin hat sie geschickt und sie sollen mich zurückholen. Sie stehen im Kreis um mich herum. Ich nehme meinen Renzel ab, halte ihn am Riemen und schwinge ihn um mich herum. Keiner kommt näher, keiner will der sein, der vom Renzel getroffen wird. "Das sagen wir der Lehrerin", sagten sie und gingen zurück zur Schule.

Meine Ostereier sind zu krumm, meine Schrift ist zu krumm. Aber meine Geschichten sind Gut: Schrift 5, Aufsatz 2. Jeden Tag mündliche Kopfrechenaufgaben am Anfang der Rechenstunde - ich komme nur noch drann, wenn kein anderer es weiß. Alles interessierte mich, außer Ordnung zu halten. Ich bin zu verspielt hieß es am Ende der ersten Klasse - das hat sich glücklicherweise bis heute nicht gegeben.

Meine Mutter organisierte Zeitschriftenaustragen für den Bauerverlag. Sie übernimmt einen Teil, ich den anderen. Teilweise zwei Pfennig pro Zeitschrift in einem großen Gebiet. Kassieren muß man auch noch, manchmal bekommt man sein Geld monatelang nicht. Einmal gibt es Hagel, groß wie Hühnereier. Einmal halten mich zwei Jungen an, ein kleiner kann Judo, ich halte mich gut, aber der Ärmel meines Mantels reißt ab. Es gibt eine Jahresprämie: eine Schallplatte der Lords. Wir geben es auf, es lohnt die häufigen Erkältungen nicht.

Ein paar Schulkameraden liefen Rollschuh und ich kam mit meinem Fahrrad vorbei. Ich erklärte mich einverstanden, sie mit dem Fahrrad zu ziehen. Immer ein Stück die Straße entlang und dann wenden. Das Auto sah ich nicht, flog im hohen Bogen durch die Luft und landete auf allen vieren. Das Taxi hinter dem Auto rief den Krankenwagen. Im Krankenhaus wurde ich geröngt. Inzwischen bringen zwei Polizisten das total verbeulte Fahrrad nach Hause. Meine Mutter soll ihr Einverständnis zur Operation geben und sofort ins Krankenhaus kommen. Meine Mutter lief erschrocken mit meiner zu Besuch seienden Oma los. Mir ging es prächtig.

In Nedderfeld gab es eine Kafferösterei, da konnte man in die großen Röstbottiche kucken. Bei der Styroporfabrik sieht man das Aufschäumen und Teeren der Platten. Beim Schlachter in der Straße kann man beim Wursten zusehen.

Wir hatten viele Sachen, die wir nicht mehr haben wolten. Meine Schwester bastelte einen Bauchladen und packte die Sachen hinein. Die Kasse aus dem Kaufladen soll uns als Kasse dienen. Alle Leute wollten immer die Kasse kaufen, aber die geben wir nicht her. Nach einer Stunde gaben wir es auf. Manchmal raufte ich mit meiner Schwester einfach so zum Spaß. Sie zieht die Waffen einer Frau: kratzen, beißen und an den Haaren ziehen.

Es war Ostern. Da war der kleine Laden, in dem es Käse, Butter und andere Milchprodukte gab. Ostern gab es auch Ostereier aus Schokolade. Meine Schwester sagt mir ich soll heimlich hinter meinem Rücken in dem Laden ein paar Eier nehmen und sie in meine Tasche stecken. Ich tue es, ohne mir etwas dabei zu denken.

Die großen Ferien gingen zuende. Ich hatte Fieber. Könnte eine Grippe sein. Das Fieber steigt bis über 41. Der Arzt gibt mir Penicillin. Ich bekomme einen Hautausschlag und komme ins Krankenhaus. Das Einzelzimmer, an dem ein Schild ist "Scharlach" und dann "Masern" ist langweilig. Dann war es wohl doch eine Allergie gegen Penicillin. Ich komme in ein großes Zimmer und wir haben so machen Spaß miteinander. Ich bekomme ein Buch über einen Skifahrer, eines über Bären, eines über Shetland-Ponys und eines über Raumfahrer. Insgesamt bin ich sechs Wochen krank und verpasse sowohl das Auswendiglernen des ABC als auch den Waldspaziergang mit Vogelkunde. Im Sommer des ersten Schuljahres komme ich in ein Schullandheim. Ich bekomme Zug und mein Auge eitert etwas. Nach Hause schreibe ich, das mein Auge ausläuft.

Mehrere Jahre lang gehe ich Sommer in das Schullandheim in Schöneberg an der Ostsee. Es ist schön am Strand und in der Gemeinschaft mit anderen Kindern. Wir singen "Willst Du 'mal nach Schöneberg fahren, faria, faria, ho, mußt Du erst Deine Eltern fragen, faria, faria, ho". Es gibt auch hunderte Bauklötze mit dem man bei Regen gigantische Dominoeffekt-Szenarien bauen kann.

Dann komme ich nach Nieblum auf Föhr ins Schullandheim. Auch das ist schön. Besonders die Schnitzeljagden sind immer wieder aufregend. Der Wettbewerb "Wer baut die tiefste Grube in den Sand, baue ich die tiefste. Aber als ich vor Ausmessen des Lochs die Grube verlassen muß, bricht sie weider ein. Auf den Rundwanderung um die ganze Insel herum verzichte ich gerne. Die Wanderung von Nieblum über das Watt quer durch die Priele hindurch ist interessant, aber ich verdurste fast. Die Kirche von Nieblum ist ein romanischer Backsteinbau und beeindruckend in seiner schlichten Erhabenheit.

In einem der Jahre ist kein Platz mehr in Nieblum und ich komme nach Husum. Aber es ist öde. Baden kann man nur im Chlor einer Badeanstalt, wenn es auch durch die Sprünge vom Zehnmeterturm gewürzt wird. Die graue Stadt am grauen Meer gefällt mir nicht. Als wir Schafe auf dem Deich ein bischen jagen kommt der Bauer mit einem Lieferwagen mit Kennzeichen HUS-C-30. Als er uns schlagen will, schlägt sich ein Lehrer mit ihm und büßt ein Brillenglas ein. Für das Gymnasium bin ich zu verspielt, ich soll erst einmal auf die Beobachtungsstufe in der fünften und sechsten Klasse gehen, dann wird man weitersehen. So komme ich in die Schule "Hinter der Lieth". Mein Klassenlehrer Herr Piko war mein liebster Lehrer meiner Schuljahre, denn er hatte immer für alles Verständnis. Auch der Physiklehrer war mit sehr lieb. Es gab eine afrikanische Statue als Wanderpreis für den besten Tisch der Klasse. Er stand immer bei unserer Sechsergruppe. Eine Refrendarin für Kunst unterrichtet uns.

Ich finde eine neue Maltechnik heraus: Man malt ein Bild dick mit Wachsmalkreiden, reibt es dann vorsichtig mit Papier und poliert mit einem Papiertaschentuch nach. Das ergibt eine glänzende Oberfläche. Mein Bild zur Erschaffung der Welt wird an der Universität ausgestellt - ich war sehr stolz darauf.

Ich schließe Freundschaft mit Axel. Er spielt schön Gitarre. Nach der sechsten Klasse weiß man immer noch nicht, ob das Gymnasium das richtige für mich ist. Ich komme auf die Realschule. Gleichzeitig ziehen wir um in einen anderen Stadtteil in eine Neubauwohnung, denn unser Haus wird abgerissen werden.

Die Realschule langweilt mich. Ich mache vier Jahre lang fast nie Hausaufgaben. Meine Eltern glauben mir, das ich nie welche aufhabe und meine Lehrer begnügen sich mit meinen improvisierten Vorträgen. Ich habe keine Lust wie andere in den Schulgängen zu sitzen und die Hausaufgaben abzuschreiben. Einmal, als ich mein Heft "zu Hause vergessen" habe, schicken sie mich los, es zu holen. Ich nehme meine Schultasche mit und mache die Hausaufgaben unterwegs am Straßenrand. Die unterrichtete Mathematik ist mir zu leicht, während der Stunden spielen wir Schiffe versenken, Gobang und Käsekästchen. Physik und Chemie begeistern mich, und als ich einen Chemiekasten geschenkt bekomme, muß der Teppich in meinem Zimmer so manches Loch erdulden. Sprachen liebe ich nur sehr bedingt. Als ich zwischen einem Französischkurs und einem Mathematikkurs wählen kann, entscheide ich mich für die Mathematik.

Ein Schuljahr lang kann sich jeder für Neigungskurse in Werken oder Kochen entscheiden. Ich entscheide mich am Freitag zwei Stunden früher nach Hause zu gehen. Das fiel erst nach einem Jahr auf und da es keine Noten gab, war es schulisch gesehen egal. Kochen konnte ich schon längst und hatte schon häufiger die häusliche Küche auf den Kopf gestellt.

Ich hasse das Gedränge von Menschenmassen und habe überhaupt kein Interesse an Fußball. So schwänze ich die Schule, als es einen Ausflug in das Volksparkstadion zu einem Fußballspiel des HSV gibt.

Einen richtigen Freund habe ich nicht. Manchmal treffe ich mich mit Detlef und wir arbeiten gemeinsam Vorträge für den Schulunterricht vor und machen einmal einen ganztägigen Fahrradausflug, bei dem wir über 100 km weit fahren. Auch mit mit Olaf, der in einer Reihenhaus-Sozialwohnung wohnt, treffe ich mich und wir machen Touren durch die Gegend. Einmal, es wurde schon dunkel, stürmte plötzlich aus einem Gebüsch ein Schäferhund und biß ihn ins Bein.

Unser Lehrer war ein Volkstanzfan. Er studiert mit der Klasse Gruppentänze nach Les Humphreys "Jordan, we are going down" und nach "Hava Nagila" ein. Ich lasse mich nicht gleichschalten und beschränke mich auf die Bedienung des Tonbands. Nach dem zweifelhaften Ruhm, den die Klasse bei diversen Vortanzveranstaltungen genoß hatte ich kein Bedürfnis.

Der Lehrer war außerdem ein begeisterter Wanderer. Die Klassenreisen arteten immer in Gewaltmärsche aus. Es ging morgens um 8 los und wir waren abends um sieben im Dunkeln nach 40 km Marsch wieder zurück. Das dieser Naturbursch dann schon früh einen ersten Herzinfarkt erlitt war mir eine innere Befriedigung.

Die Schulaufführung zum Thema Krieg mit Texten von Borchert und Brecht hat mich zum Nachdenken über das Soldatentum und den Krieg angeregt, mit der späteren Folge keinen Wehrdienst leisten zu wollen.

Ich bekam ein Buch über Computer aus der Reihe "Was ist was" geschenkt. Das löste bei mir eine Änderung des Berufswunsches von Kapitän in Systemanalytiker aus.

Im Konfirmationsunterricht diskutiere ich viel mit dem Pfarrer über Religion im Allgemeinen und über die Bibel im Besonderen. Später gehe ich auch zum Jugendtreff. Wir machen Ausflüge, organisieren Gottesdienste und Disko-Abende. Es gibt auch Diskussionsabende. An einem davon wird über die Thesen der F.D.P. diskutiert zur Trennung von Kirche und Staat. In dessen Verlauf meine ich, dass alle Leute mit Ihrer Volljährigkeit bewusst in die Kirche eintreten sollten, anstatt sie praktisch automatisch zu Mitgliedern zu machen. Ich nagele den Pfarrer schliesslich darauf fest, dass es ihm egal ist, ob die Leute an Gott glauben. Die Hauptsache sei, dass die Leute ihre Kirchensteuer zahlen, damit die Kirche Geld für ihre sozialen Aufgaben haben. Das bringt mich dazu, aus der evangelischen Kirche so schnell wie möglich auszutreten.

Lehrjahre

Der nette Herr auf dem Arbeitsamt meint, ich lerne am Besten "Mathematisch Technischer Assistent" an der Fachhochschule Wedel PTL. Es ist eine private Schule, die pro Halbjahr 1200 Mark kostet. Er hat auch andere dorthin geschickt - ob er wohl Prozente bekam?

So fahre ich jeden Tag eineinhalb Stunden von Farmsen nach Wedel und wieder zurück. Auf dem Weg habe ich viel Zeit zum Lesen, unter anderem den "Herrn der Ringe" von Tolkien. Nur an wenigen sehr schlimmen Tagen wird die fast leere 1. Klasse der S-Bahn-Wagen auch für 2.-Klasse-Fahrgäste freigegeben.

Der Lehrstoff fällt mir größtenteils sehr leicht, denn es handelt sich fast ausschließlich um Mathematik und viel Physik. Besonders Programmieren begeistert mich, ich habe oft zehn Programme gleichzeitig in Arbeit und bekomme deshalb einen Verweis von den Opratoren. Nur Elektronik und Technische Zeichnen liegt mir nicht. Die Vorlesungen laufen gemeinsam mit denen der graduierten Informatik-Ingenieure, Physik-Ingenieure und Physikalisch-Technischen-Assistenten ab. Die Ingenieure studieren einfach zwei Semester mehr und machen dann noch eine Ingenieurs-Arbeit. Mir ist das nicht möglich, weil ich eben nur Mittlere Reife habe.

Ich freunde mich mit Cornelia an, die den gleichen Ausbildungsgang belegt. Wir machen gemeinsame Praktika im Sommer bei DESY, dem "Deutschen Elektronen-Synchrotron". Wir sehen uns Filme im Kino von Flottbek an wie "2001", "Clockwork Orange" und "Mein Name ist Nobody". Wir spielen Bowling und danach habe ich einmal meinen ersten Sex mit ihr.

Ich lerne auch andere Komillitonen kennen, die Mitglieder der Baha'i-Religion sind. Ich gehe zu öffentlichen Diskussionsveranstaltungen und diskutiere dort über "Gottesbeweise", die mir aber sehr schwach erscheinen. Ich gehe auch zu privaten Zusammenkünften und entschließe mich schließlich den Baha'i beizutreten. Ich versuche es konsequent zu machen und zu missionieren mit Informations-Ständen auf Flohmärkten und selbstgefertigten Plakaten für eine Info-Vitrine in der U-Bahn-Station. Ich gewinne mit der Zeit den Eindruck, dass es nette Menschen sind, die für ihre Religion ähnlich wenig Zeit haben wie die Christen.

Für den Wehrdienst werde ich gemustert und wegen meiner Dickleibigkeit in die Ersatzreserve 2 eingestuft. Man weist mich darauf hin, dass ich wahrscheinblich nie eingezogen werde, aber ich bin entschlossen auch hier konsequent zu sein und beantrage die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Ich werde zur Komission geladen, die mich über die Baha'i-Religion ausfragt und mir sschließlich erklärt, aus meiner Religionszugehörigkeit zu schließen, dass ich aus Gewissensgründen den Wehrdienst nicht ausüben kann - was hätte sie gesagt, wenn sie wüßte, dass die Baha'i-Religion Kriege nicht grundsätzlich ablehnt?

Als Zivildienstplatz will ich in einem Kindergarten arbeiten. Um dies mit der Mithilfe zur Erfüllung des Baha'i-Fünfjahresplans zu verbinden, tingele ich zu mehreren Kindergartenträgern in Schleswig-Holstein. Den christlichen genügt meine Baha'i-Religion nicht. Die Arbeiterwohlfahrt findet es eine tolle Idee, teilt mir später mit, es würden jetzt "Richtlinien für die Anforderungen an einen Zivildienstleistenden" ausgearbeitet. Nachdem der zuständige Mitarbeiter erst krank, dann im Urlaub ist und ich nach dem nicht vorhandenen Führerschein gefragt werde, gebe ich auf.

Ich suche in Hamburg über das Arbeitsamt eine erste Stelle. Das Hydrographische Institut ist sehr interessiert, dass ich Programme zur Lösung ihrer Differentialgleichungen schreibe, muss die Stelle aber mit einem unbeschäftigten Beamten besetzen. Das Meteorologische Institut will eigentlich eine Ingenieur, aber ich kann ihnen ja meine Unterlagen schicken - Danke!

Das "Institut für medizinische Information und Dokumentation" in Gießen bietet eine Stelle und auch einen Zivildienstplatz an. Ich nehme einen dreimonatigen befristeteten Vertrag und daran anschließend programmiere ich sechzehn Monate als Zivildienstleistender.


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